keine Schubladen

Ein paar Ethno­logen machen in ein paar Tagen einen Workshop. –– Leider funk­tionierte der Link nur ein paar Tage (ein pop-up link). Zu dem Workshop ein paar Worte danach.
Wenn ich sie recht verstehe, geht es darum, dass die Welt nicht aus LGBT besteht, sondern aus q + und viel dazwischen und daneben, dass man also nicht eine Flage mit genau definier­ten Farben schwenken soll, sondern ein Spektrum – wohl in 5 Dimen­sionen.
Für mich ist das alter Kaffee:
Es ist ja kein Zufall, dass ich von "Sex mit Männern ohne schwul zu sein" geschriebn habe, dass ich darin Georg Pfeffer zitiere habe, der schrieb:
Es gibt keine Homosexualtät an sich.

In meinem Text referiere ich Georg Pfeffer, ohne zu wissen, dass er mit 16 nach Lahore kam, wo sein Vater Prof. wurde, und er selbst dann studierte. Leider ist er während der Covid-Pandemie verstorben.
Hier seine Erkenntnisse:
1. der Wert des Geschlechtlichen
Das Thema Geschlecht und Sexualität in Pakistan berührt die Grundwerte der Punjabis; dennoch hat sich die Sozial­forschung in diesem Land kaum mit dem Thema befasst. Da die Werte mit dem Konzept der Sexua­lität verknüpft sind, zögern die Forscher. Was veröffent­licht wird, könnte die Aufmerksamkeit des Mobs auf sich ziehen und schwer­wiegende Folgen haben. Geschlecht und Sex sind unter meinen Punjabi-Freunden ständig Thema - in privaten Gesprächen. In öffentlichen Debatten ist es Tabu. Ich erinnere mich, dass hohe Beamte in informellen Gesellschaft kein Problem mit obszönen Witzen hatten, während sie im nächsten - formelle­ren - Moment Obszönität fromm ver­urteilten. Dieser Dualismus ist eine gesellschaf­tliche Tat­sache. Sowohl Witze als auch Anstand werden erwartet. Abweichler werden sanktioniert. Wenn der Pöbel bestrafen will, wird er wahrschein­lich sowohl grob als auch rechtschaffen sein.
Unter diesen Bedingun­gen und angesichts des all­gemeinen Mangels an Sozialforschung in Pakistan ist jede Äußerung über Geschlecht und Sexualität riskant; man ist meist entweder zu oberflächlich oder zu vorsichtig. Es gibt gute Gründe, dieses Risiko einzugehen. Im letzten Jahr­zehnt wurden britische muslimische Schriftsteller südasiati­scher Herkunft von ihrem Umfeld ermutigt, gewagte Reflexionen über die Realität anzustellen.
Dafür wurden sie hart bestraft. Andererseits können ausländische Sozialwissenschaftler leicht damit leben, dass ein paar Augenbrauen hochgezogen werden. Ich habe nie systematisch über Sexualität geforscht. Aber da ich in den letzten drei­einhalb Jahr­zehnten einige Jahre in Pakistan verbracht habe, konnte ich jedoch nicht umhin, mit dem Thema konfrontiert zu werden.

2. Außereheliche Sex zwischen Mann und Frau
Nur kurz werde ich auf die Beziehung zwischen Mann und Frau eingehen. Heutzutage ist die Frau in den Augen des Mannes eine Schwester oder ein potenzielles Objekt sexueller Aktivität. In den wenigen westlich geprägten Ecken des Landes kennt man Romantik und den Hof-Machen, aber andernorts ist Senti­mentalität verboten, potenziellen Ehepartner sollen sich nicht unbeaufsichtigt treffen. Die „Geliebte“ ist meist ein Filmstar oder Geschöpf der Fantasie. Viel wichtiger ist die Beziehung zwischen den Geschwistern. Ein Mann sollte seine Schwestern mit selbstloser Liebe und Respekt be­handeln. Sie verlangt seine Hilfe und Fürsorge, und er muss sie beschützen, bis hin zur radikalen Einschränkung ihrer Bewegungs­freiheit. Mütter hingegen werden ihren Söhnen nicht gehorchen, und Töchter spielen zuweilen geschickt mit der unbestreit­baren Kombination aus Autorität und Liebe ihrer Väter. Die Beziehung zwischen Bruder und Schwester ist zweideutig und für den Mann gefährlich, da sie seine Schwäche, die Unfähigkeit, vollkommene Sicherheit zu bieten, offenbaren kann. Nichteheliche sexuelle Aktivitäten zwischen Männern und Frauen kommen vor - eine dunkle und geheime Angelegenheit. Ich würde auch sagen, dass solcher Sex immer innerhalb von Autoritäts- oder Intimitäts­struk­turen stattfindet, die als legitim bezeichnet werden. Ein Mann hat viele Arten von „Schwestern“. Seine Cousins und Nachbarn sind seine „Schwestern“, auch wenn die Cousin-Ehe ein übliches Arrangement ist. Der „Schwester“-Status kann manipuliert werden, ebenso wie ein Mann eine Frau zu seiner bhabi oder „Frau des älteren Bruders“ erklären und damit die anerkannte scherz­hafte Beziehung ausnutzen kann. Kurz gesagt: Eine Quasi-Schwesterbeziehung ist technisch - nicht rechtlich - der Rahmen für nichtehelichen Sex zwischen Männern und Frauen. Dies ist bedeutsam, weil gewöhnliche Punjabis regelmäßig unter Bezugnahme auf Bruder-Schwester-Inzest fluchen würden. Ich vermute, dass soziologischer (und nicht biologischer) Inzest nicht völlig unüblich ist.

3. Mann-Männlicher Sex
Der andere Standard- und Extremfluch bezieht sich auf einen Mann, der anderen Männern erlaubt, ihn zum Geschlechts­verkehr zu benutzen. In den frühen sechziger Jahren war diese Art von Sexualität unter meinen Kommilitonen weit verbreitet. Die meisten Klassenkameraden wohnten in Studenten­wohnheimen, und ich ging fast täglich dorthin, um Fußball, Tischtennis oder Schach zu spielen. So wurde ich im Laufe von drei Jahren mit den informellen Einstellungen und Verhaltensweisen junger Männer in Lahore recht vertraut. Ich vermute, dass mann-männlicher Sex unter diesen Punjabi-Jugendlichen ebenso weit verbreitet war wie mann-weibliche an westeuropäischen Universitäten. Und umgekehrt: Mann-Weib­liche Sexualität ist an Punjabi-Universitäten so weit verbreitet wie schwule Kontakte an der Freien Universität Berlin oder ähnlichen Einrichtungen in Europa.
Beziehungen zwischen Männerlichen unterscheiden stark. Einmal reiste ich mit einer Gruppe von Punjabi-Studenten drei Monate lang durch den Nahen Ostens und konnte dabei ein männliches Paar beobachten, das Sex absolut vermied. Der Ältere kümmerte sich mit äußerster Zärt­lichkeit um den Jüngeren und wies Außenstehende, die Bemerkungen machten, zurecht, während der Jüngere die große Aufmerksam­keit genoss. In den Studentenwohnheimen trafen die Paare in der Regel Vereinbarungen über gemeinsames Wohnen, gemeinsame Mahlzeiten und dergleichen. Liebesbriefe wurden verschickt und empfangen – ebenso wie Eifersucht die Phasen der Harmonie störte.
Ich habe auch von Gruppen­vergewalti­gungen und Kämpfen um sexuelle Vorrechte gehört. Ich bin mir nicht sicher, inwieweit die männliche Sexualität nach der Ehe fort­gesetzt wurde, aber ich denke, jeder Fall ist anders. Ein guter Freund von mir, der sein Leben mit einem Mann teilte, hatte sich von mehreren jungen Frauen scheiden lassen, die im Laufe der Jahre von seinen überängstlichen Eltern mit ihm ver­heiratet worden waren. Vielleicht sollte ich auch die Beobachtung von Paaren unter jenen sehr konservativen Männern erwähnen, die als maulvi bekannt sind, weil ihre Kleidung und ihr Verhalten ihre Frömmigkeit betonen. Bei solchen Gelegenheiten verhält sich der Mann mittleren Alters seinem jüngeren Freund gegenüber in jeder Hinsicht als der Ältere.
Partner bei mann-männlichem Sex waren nie gleich­gestellt. Der eindringende Partner wird respektiert, steht höher. In Internaten, so wurde mir berichtet, benutzten die älteren Jungen oft die jüngeren nach Belieben. So war der „passive“ Partner beschämt, während der „aktive“ Partner öffentlich mit seinen Heldentaten prahlen und andere als potenzielle Opfer bedrohen konnte.

4. Interkultureller Vergleich
In der weltweiten sozialanthropologischen Literatur gibt es eine Reihe relevanter Studien über männliche Sexualität. Die Schlussfolgerung, die ich aus diesen Texten zu ziehen wage, ist, dass die Kategorie, die wir "Homo­sexuali­tät" nennen, eine auf unsere eigene Kultur beschränkte Bedeutung hat (((Da sich in der umfangreichen Literatur über west­liche Homo­sexua­li­tät ein "essen­tialisti­sches" (z.B. Boswell 1980) und ein "konstruk­tivistisches" (z.B. Weeks 1981) Lager gegen­über­steht, sei bemerket, dass der inter­kulturelle Vergleich das Argument des letzteren zu stärkt.))) Deutsche und Briten scheinen zu wissen, was sie meinen, wenn sie von Homo­sexuellen, Hetero­sexuellen und Bisexuellen sprechen. Sie beziehen sich auf individuelle Neigungen und Praktiken. Man geht davon aus, dass ein Mann oder eine Frau von Natur aus zu dem einen oder dem anderen Geschlecht oder zu beiden neigt, so wie man Rechts- , Links- oder Beidhänder ist. Diese westliche Vorstellung wider­spricht der berühmten Feststellung von Hertz (1907), dass Händigkeit eine soziale Tatsache ist. Unseren Kategorien liegen die Vorstellungen von Gleichheit und Wahlfreiheit zugrunde. Ein Individuum wählt aus freien Stücken ein anderes Individuum des einen oder des anderen Geschlechts als gleichberechtigten Partner. Status­differenzierung und GeschlechtsRolle bedingen einander nicht, sondern ergeben sich aus individueller Eigenschaften.
Vielleicht täusche ich mich, vielleicht war das früher anders. In der letzten Februarwoche 1994 las ich die Debatte im britischen Unterhaus über das Mindest­alter für erlaubte Homosexualität. Ein konservativer Abgeordne­ter wurde von der Zeitung The Guardian mit den Worten zitiert, er könne einem Gesetz nicht zustimmen, das es einem Erwachsenen erlaube, einen unreifen Jugendlichen "arschzu­ficken". Aus dieser und anderen Äußerungen habe ich gelernt, dass der abfällige englische Begriff "bugger" nur auf einen der beiden am Sex beteiligten Männer, den aktiven, angewendet wird. Er wird verurteilt, während der andere als eine Art Opfer oder zumindest als Objekt erscheint. Irgendwo habe ich gehört oder gelesen, dass in unserer mittelalterlichen Form der christlichen Justiz nur der aktive Partner verbrannt wurde. Er und nur er wird in der berühmten Stelle in Levitikus 18,22 verurteilt. Vielleicht hat dieses gemein­same Erbe von Juden, Christen und Muslimen, das für die grau­samste Verfolgung sexueller Minderheiten verantwort­lich ist, in Groß­britannien überlebt. Aber wie dem auch sei. Ich verweise auf die mögliche Umkehrung der pandschabischen Form der Ungleichheit und die etwas andere Tradition in Großbritannien im Vergleich zu Deutschland. Heute wird eine solche Statusdifferenzierung meines Erachtens in beiden Ländern ignoriert, wenn man von ein paar konservativen Abgeordneten absieht.
In anderen europäischen Ländern gibt es andere Kategorien im Zusammenhang mit der männlichen Sexualität. Im traditionellen Spanien wird die Punjabi-Bewertung beibehalten. Ein Mann wird von anderen bewundert, wenn er wahllos in männliche oder weibliche Objekte eindringt, und er wird überhaupt nicht bewundert, sondern verliert seinen Macho-Status, wenn er die weibliche, die unterlegene Rolle im Akt spielt. Die gleiche Umkehrung früherer britischer Werte findet sich im Mittelmeerraum und Lateinamerika (siehe Lancaster 1988). In Usbekistan ist die Rolle des aktiven älteren Mannes, der mit dem passiven Jungen "spielt", eine gesellschaft­lich anerkannte formale Beziehung (Baldauf 1988). Solche Jungen können ihre Verehrer zum Narren halten. Ein anderes Bild männlichen Sexualität zeigt die Studie von Wikan über die Xanith von Oman (1977). Hier werden weibige Männer - die aber biolo­gische Männer sind - als Hausangestellte beschäftigt und können die strenge Grenze zwischen Männern und Frauen im Haushalt überschreiten, da sie als passive Objekte und als keine Gefahr für die Frauen gelten. Ein weiterer Fall betrifft einige Kulturen in Neuguinea (z. B. Ernst 1991 [Gilbert Herdt The Sambia: Ritual, Sexuality, and Change in Papua New Guinea (Case Studies in Cultural Anthropology) ²2006 A.S.]), wo eine Form des Geschlechtsverkehrs zwischen Mann und Mann für einem bestimmten Alter die Norm ist.
Die Frage der individuellen Wahl oder Neigung stellt sich nicht. Ein Minimum an bestätigten Beobachtungen hat zu einem Maximum an anthropolo­gischer Literatur über die männlich-männliche Sexualität des sibirischen Schamanen und des nordamerikanischen Indianers berdache geführt. Offensichtlich beinhalteten diese sozialen Rollen außer­gewöhnliche und ehrenhafte - wenn nicht rituelle - Fähigkeiten (siehe z. B. Thayer 1980), einschließlich der Paarung mit Angehörigen beider Geschlechter. Ich nenne all diese Beispiele nur, um zu betonen, dass es *Homosexualität als solche* nicht gibt. Vielmehr glaube ich, dass verschiedene Kulturen sehr unterschiedliche Versionen von angemessener und gesellschaft­lich anerkannter Sexualität und abweichendem Verhalten konstruieren.
Die Analogie zum Essen ist leicht zu erkennen: Was in einer Kultur unrein und ungesund ist, kann in einer anderen harmlos oder ehrenhaft sein. Wie beim Essen geht es beim Sex um die Überschreitung körperlicher Grenzen. Er ist der ideale Stoff, gesellschaft­licher Grenzen zu ziehen. Der individuelle Körper steht für die moralische Gesellschaft.

nonhomosexually identified men who have sex with men
Ein anderer Punkt, den ich ausbauen muss, sind die Chicanos, die Sex mit Männern haben, sich aber als heterosexuell betrachtet. Der Augenöffner war die Befragung von jungen männlichen Blutspendern in einem Latino-Viertel von Los Angeles 98 % gaben an, heterosexuell zu sein, und von diesen „Heterosexuellen“ gaben 80 % an, in den letzten sechs Monaten Sex mit Männern gehabt zu haben, während nur 60 % eigenen Angaben zufolge in diesem Zeitraum Sex mit Frauen hatten. Als Quelle gab ich in Fußnote 2 die BBC.
Heute habe ich gegoogelt und andere - akademischere - Quellen gefunden.
Natürlich legt jede/r anderes Schwergewicht. Die Zahlen bei
Homosexually and nonhomosexually identified men who have sex with men: A behavioral comparison
von Lynda S. Doll, Lyle R. Petersen, Carol R. White, Eric S. Johnson, John W. Ward
im The Journal of Sex Research 29,1, 1992
sind ganz andere, weil es hier nicht um "Sex mit Männern" sondern um "Arsch-Sex ohne Kondom" geht.
Lesenswert in diesem Zusammhang auch:

Applying Anthropology to the Prevention of AIDS: The Latino Gay Men's Health Project
von Merrill SINGER, Luis MARXUACH-RODRIQUEZ
in Human Organization 55,2 (1996)

Ronald O.Valdiserri, David W.Lyter, Laura C.Leviton, C.M. Callaghan et al.
AIDS prevention in homosexual and bisexual men (1989)
in [AIDS 1989-jan vol. 3 iss. 1]

Bisexually Active Men: Social Characteristics and Sexual Behavior
von David J. McKirnan, Joseph P. Stokes, Lynda Doll and Rebecca G. Burzette
The Journal of Sex Research, Vol. 32, No. 1 (1995), pp. 65-76

Joseph M. CARRIER, J. RAUL MAGAÑA, Ph.D.
Use of Ethnosexual Data on Men of Mexican Origin for HIV/AIDS Prevention Programs
The Journal of Sex Research Vol. 28, No. 2, pp. 189-202 May, 1991

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